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Monat: Juni 2014

Gemeinwesendiakonie – ein Beitrag von Kirchengemeinden und Diakonievereinen für ein gutes Leben vor Ort

Mit Dr. Urte Bejick hatte der Protestantische Diakonissenverein Frankenthal e.V. am 4. Juni eine der Pionierinnen der Altenheimseelsorge in der evangelischen Kirche zu Gast. Die Theologin ist Vertreterin des Diakonischen Werks und des Oberkirchenrats der badischen evangelischen Landeskirche. Seit zwei Jahrzehnten ist sie profilierte Fürsprecherin für die Würde alter Menschen und für eine Kirche aller Generationen. Ihr Vortrag fand im Rahmen des 150-jährigen Jubiläums des Protestantischen Diakonissenvereins in der Friedenskirche in Frankenthal statt.

Eine biblische Vision stand am Anfang des Vortrags von Dr. Bejick: »Alte Männer und alte Frauen werden noch auf den Plätzen von Jerusalem sitzen, und weil sie so betagt sind, wird jeder seine Stütze in seiner Hand haben. Und die Plätze der Stadt werden voller Knaben und Mädchen sein, die fröhlich spielen auf ihren Plätzen.« Ein Bild aus Sacharja 8, das damals hoffnungsfroh, aber utopisch wirkte, heute aber eher bedrohlich. So viele schutzbedürftige Menschen, so Dr. Bejick, passten nicht zum aktuellen gesellschaftlichen Leitbild der Selbständigkeit, Selbstverantwortung und Autonomie. Übersehen werde dabei, dass das Alter sehr vielfältig geworden sei: von Älteren, die sich gesund und mobil fühlten bis hin zu Älteren, die unsere Unterstützung benötigten. Alter, so Dr. Bejick, hänge heute nicht in erster Linie von der Zahl der Lebensjahre ab, sondern von der Gesundheit und den Teilhabemöglichkeiten. Gerade das Thema Armut im Alter zeige, dass es dort noch viel zu tun gäbe.

Als verhängnisvoll für das Schicksal gerade der hilfebedürftigen Älteren sah Dr. Bejick die zunehmende Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die vor zwei Jahrzehnten eingesetzt habe. Werde das Risiko, pflegebedürftig zu werden, als rein privates Risiko angesehen und nicht mehr als gesellschaftliche Aufgabe, dann würden die Angehörigen mit der Pflege überfordert und die Pflegebedürftigen würden zum »Fall«. Nicht mehr sie als unverwechselbare Menschen stünden im Mittelpunkt, sondern die Module, nach denen ihre Unterstützung abgerechnet werden könnte. Einen Ausweg weist für Dr. Bejick die gemeinwesenorientierte Altenarbeit. »Wie können wir Quartiere so gestalten, dass alte Menschen darin aktiv teilhaben können und darin auch mit Einschränkungen leben können und beim Umzug in eine stationäre Einrichtung oder ein Heim nicht isoliert sind?«, darum geht es dabei für sie.

»Altengerechte« Stadtviertel oder Dörfer sind für sie dabei auch gute Orte für andere Erwachsene und Kinder, die gleichfalls von einer guten Infrastruktur, von der nahen Arztpraxis, dem Einkaufszentrum, dem öffentlichen Treffpunkt oder dem Nahverkehr profitieren. Ein besonderes Problem heute seien dabei altengerechte Wohnungen, die auch bezahlbar seien. Kirchengemeinden und Diakonievereine wie der Protestantische Diakonissenverein sind für Dr. Bejick dabei ein guter Ansatzpunkt für die Alten- und Generationenarbeit im Quartier. Kirchengemeinden seien mit ihren Angeboten vom Kindergarten bis zur Sozialstation bereits generationenübergreifend und hätten eine lange Tradition, was das Ehrenamt, Erwachsenenbildung, Seelsorge oder diakonische Dienste und Einrichtungen angehe – für Dr. Bejick eine ideale Voraussetzung, um Netze für Ältere zu bilden, wenn alle diese Dienste zusammenarbeiten würden.

Kirche und Diakonie überforderten sich aber, wenn sie diese Netze alleine bilden wollten. Die meisten Jünger Jesu, so Dr. Bejick, wären »Netzwerker« gewesen, nämlich Fischer und keine Angler. Fischen mit einem Netz bräuchte viele Hände und unterschiedliche Akteure. In eine solche Kooperation könnte die Kirche vieles einbringen: Begegnungsstätten und Gemeindehäuser, Seniorennachmittage, die für andere offen sind, die Beratungsarbeit der Diakonischen Werke, Altenheime und Sozialstationen. Mit Beispielen belegte Dr. Bejick, wie viele unterschiedliche Bündnispartner von der Volkshochschule bis zum Second-Hand-Laden es in einem Quartier für eine solche Arbeit gebe. Allerdings müsste es jemand im Quartier in die Hand nehmen.

Als Theologin hinterfragte Dr. Bejick die gesellschaftlichen Leitbilder des aktiven Alten und der Selbständigkeit. Sie plädierte für eine Ethik der Interdependenz und der Aufmerksamkeit. Diese sei ein wichtiger Beitrag der Kirchen zum demographischen Wandel. So könnte Alter unmöglich eine Verlängerung von 40 sein und hätte als Lebensphase eine eigene Aufgabe. Auch könnte Demenz nicht so aufgefasst werden, als bedeute sie den Verlust der vollen Menschlichkeit. Menschen seien von Geburt an mehr oder weniger abhängig, diese gegenseitige Abhängigkeit und Hilfe mache gerade ihr Menschsein aus und dürfe nicht mit Ausgeliefertsein verwechselt werden. Für die alten Menschen schließlich, auf die zwangsweise zukäme, aus der Leistungsgesellschaft zu fallen, bedeute die protestantische Rechtfertigungslehre, »ohne jede Leistung gerecht« zu sein. Für sie gelte am Ende ihres Lebens: »Dein gelebtes Leben zählt so, wie es ist«.

Dekanin Sieglinde Ganz-Walther dankte Frau Dr. Bejick für den anregenden Vortrag, der viele Linien in der aktuellen gesellschaftlichen und kirchlichen Diskussion miteinander verband. Für den Protestantischen Diakonissenverein beinhaltete die Anregung zu einer gemeinwesendiakonischen Ausrichtung eine klare und motivierende Zukunftsperspektive.