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„Mit diesem Menschenbild hat der Sozialstaat keine Zukunft mehr«

Am 12. März 2017 war Dr. Heiner Geißler vom Protestantischen Diakonissenverein Frankenthal zu einem Vortrag über das Thema „Armut in einem reichen Land – Welche Zukunft hat der Sozialstaat?“ eingeladen worden. Im vollbesetzten großen Saal des Dathenushauses ging er der Frage nach, wie in einem Land, das einen ausgebauten Sozialstaat hätte, Armut überhaupt erst entstehen könnte. Besonders Erwerbslose, Alleinerziehende, kinderreiche Familien und Menschen mit befristeten Arbeitsverhältnissen, so Geißler, seien von Armut bedroht. Statistisch gälten Menschen als arm, wenn sie weniger als sechzig Prozent des durchschnittlichen Einkommens hätten. Was Armut konkret bedeutet, zeigte Geißler am Beispiel von Hartz IV: Dort gebe es nicht mehr als 145 Euro im Monat für Lebensmittel, für andere Bedürfnisse bleibe nichts übrig. Für Geißler ist deshalb jemand arm, der sich über die Ernährung hinaus keine kulturellen Bedürfnisse erfüllen könnte.

Mit Hartz IV, so Geißler, wären auch die Minijobs eingeführt worden. Heute gebe es bei uns 500 Millionen Minijobs. Das führe zur Altersarmut besonders bei Frauen. Diese hätten nicht so viele Jobmöglichkeiten wie die Männer. Außerdem würden die Erziehungszeiten nicht so gewertet werden, als ob sie gearbeitet hätten. Die Diskriminierung der Frauen, die am weitesten verbreitete Diskriminierung, verurteile Geißler scharf.

In seinen zehn Jahre als Sozialminister in Rheinland-Pfalz, so Geißler, hätte er die Beamten angewiesen, im Zweifel für die Menschen zu entscheiden. Schließlich sei der Wohlstand nicht für den Staat, sondern für alle, nicht nur für zwei Drittel und für ein Drittel nicht. Das Denken hätte sich heute verändert: Jobagenten wären heute unter Druck, einzusparen, und das könnten sie nur, indem sie den Leuten Leistungen kürzen würden.

Geißler erinnerte daran, dass dem Sozialstaat ein ethisches Fundament zugrunde liege. Die soziale Marktwirtschaft sei auf den Ordo-Liberalismus, die katholische Soziallehre und die evangelische Wirtschaftsethik zurückzuführen. Die Grundlage des geordneten Zusammenlebens sei die Menschenwürde, die für alle Menschen gelte, gleich, welcher Klasse, welcher Ethnie, welchem Geschlecht oder welcher Religion sie angehörten. Das christliche Menschenbild, so Geißler, sei die Grundlage der Wirtschafts- und Sozialordnung in Deutschland gewesen. Heute sei das Menschenbild des Evangeliums eine Provokation angesichts der globalen Wirtschaftsordnung der Spekulanten, Devisenhändler oder Investmentbanker. Jesus hätte keine Grenzen gekannt, sondern allen geholfen.

Bezogen auf Hartz IV sagte Geißler, die Entscheidung des Gesetzgebers hätte nicht den Menschen gedient, sondern den Interessen der Industrie und der Finanzwelt. Er beklagt die im Totalen endende Ökonomisierung unserer Gesellschaft, die heute neue Diskriminierungsgründe hervorbrächte. Am Beispiel der Diskussion um Hüftgelenksoperationen für Menschen über Achtzig würden heute Menschen als Kostenfaktor diskriminiert: Er gelte umso mehr, je weniger er kostete, und umso weniger, je kränker er sei. Ebenso kritisierte er die Überlegungen, nicht einstimmungsfähige Menschen ohne weiteres für Versuchszwecke zu verwenden und den Schutz auf „vollwertige“ Personen zu begrenzen. Mit diesem Menschenbild, so Geißler, hätte der Sozialstaat keine Zukunft mehr.