»Damals war ich noch ein Kind – Kriegskinder und ihr Lebensweg bis heute« lautete die Überschrift eines Fachtags und eines Vortrags mit Professor Dr. Hartmut Radebold am 22. Februar 2014 im Hieronymus-Hofer-Haus. Über 70 Teilnehmer beteiligten sich am Fachtag und ebensoviele Zuhörer kamen zum Vortrag am Abend. Eingeladen hatte der Protestantische Diakonissenverein Frankenthal e.V., der in diesem Jahr sein 150-jähriges Jubiläum feiert. Professor Dr. Radebold, selbst Kriegskind, hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Erfahrungen der 1929 bis 1947 Geborenen zum Thema geworden sind. Ihre Erfahrungen sind geprägt vom Bombenkrieg, von Evakuierung, Kinderland-Verschickung, Flucht und Vertreibung. Sie waren als Rotkreuz-Helferinnen und Flakhelfer noch in den Krieg eingespannt und haben unzählige Gewalttaten miterleben müssen. Ein Viertel der Kinder in Deutschland (und nicht nur dort) wuchs nach dem Zweiten Weltkrieg ohne Väter auf. Nach dem Krieg fragten die Erwachsenen nicht untereinander: »Wie seid ihr durchgekommen?«, mit ihren schrecklichen Erfahrungen waren auch die Kinder alleine.
Zentrale Erfahrungen der Kriegskinder, so Professor Radebold, waren: »Ich kann in diesem Krieg meine Heimat verlieren. Ich erlebe etwas, was ich nicht verstehen kann und dem ich absolut hilflos ausgeliefert bin. Wenn die Erwachsenen da sind, können sie mir nicht helfen, sondern sie sind selbst in Gefahr. Ich bin alleine und kann nicht über Angst, Panik und Verzweiflung reden.« Nur ein Teil der Kinder hatte außerdem die Möglichkeit zu trauern. Gefallene Väter wurden nach 1942 nicht mehr nachhause gebracht. Bis heute gibt es 1,1, Millionen Vermisste aus dem zweiten Weltkrieg.
30 bis 35 Prozent der Kriegskinder, schätzt Professor Radebold, sind schwer traumatisiert, etwa 30 Prozent weniger schwer. Ihre Erfahrungen haben sie unter einer »sehr stabilen seelischen Betondecke«, so Professor Radebold, verborgen. Nach dem Krieg sprach niemand über die psychischen Folgen des Zweiten Weltkriegs. Über die dann jungen Erwachsenen sagte Professor Radebold: »Wir funktionierten.« Äußerlich erschien die Kriegskinder-Generation als »kleine, ernste, leicht bedrückte Erwachsene, denen die Kindheit gefehlt hat«. Sie erfüllten ihre Pflichten in Beruf und Familie, fühlten sich ängstlich, waren nach außen freundlich, innerlich aber misstrauisch und skeptisch, entwickelten besondere Verhaltensweisen wie alles aufzuessen oder alles aufzuheben und nahmen auf den eigenen Körper keine Rücksicht.
Jetzt, im Alter, so Professor Radebold, bekommt die Kriegskinder-Generation aufgrund ihrer Erfahrungen und Einstellungen massive Schwierigkeiten. In einer Lebensphase, in der Abschiede unweigerlich dazugehören – vom Beruf, von der Gesundheit, von nahestehenden Menschen –, tun sich die Kriegskinder schwer, denn sie haben nie gelernt zu trauern. Als »schlimm bis katastrophal« wirkt sich auch aus, dass die Kriegskinder nicht auf ihren Körper achten und zum Beispiel Vorsorgeuntersuchungen ignorieren oder dass sie sich schwer damit tun, Hilfe anzunehmen. Sprichwörtlich ist auch die Unfähigkeit, etwas wegzuwerfen und zu entrümpeln.
Viele der Kriegskinder leiden unter Symptomen wie Angstzuständen, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, leichten Depressionen, Schlafstörungen und anderem, die in den seltensten Fällen als Folge des Krieges erkannt werden. Kriegskinder hätten, so Professor Radebold, im Alter auch ein hohes Risiko, psychisch zu erkranken. Auch nach 40 oder 50 Jahren kann ein Trauma plötzlich und in voller Wucht wieder da sein. Unfälle, Operationen, Filme, Gespräche – viele Gelegenheiten können das gefühlsmäßige Leid wieder aufbrechen lassen.
Daraus, so Professor Radebold, ergeben sich Aufgaben für die Kriegskinder selbst: Eigene Verhaltensweisen zu überprüfen, zu akzeptieren, dass es Situationen wie ein wieder aktives Trauma gibt, bei denen man Schutz und Hilfe braucht, sich selbst auch einmal zu verwöhnen und mit den eigenen Kindern zu reden. Professor Radebold geht davon aus, dass achtzig Prozent der Kriegskinder noch nie mit ihren Kindern über ihre Erfahrungen gesprochen haben. »Wie haben an unsere Kinder etwas weitergegeben, was sie bis heute geprägt hat«, sagt Professor Radebold. Werden die Erfahrungen der Kriegskinder-Generation nicht aufgegriffen, pflanzt sich das psychische Leid aus dem Zweiten Weltkrieg über weitere Generationen fort. Nach den Kriegskindern sind es heute die »Kriegsenkel«, deren Schwierigkeiten in den Blick kommen.
Für Kirchengemeinden und Diakonie ist es wichtig, Kriegskindern die Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit ihren Erfahrungen und zum Austausch mit anderen Kriegskindern zu geben. Eine solche Gruppe bereitet der Protestantische Diakonissenverein Frankenthal gerade vor.